Große Werke

NeuHören

In der jüngeren Vergangenheit ab 2014 wurde das zentrale Anliegen der Jungen Kantorei neu bestimmt, ohne dabei ihre traditionellen Qualitätsmerkmale aus den Augen zu verlieren – die seit jeher gepflegte Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis sowie die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Werke in der zeitgeschichtlichen Situation ihrer Entstehung einerseits und ihrer aktuellen Aufführung andererseits.

Unter dem Motto NeuHören möchten wir unsere Zuhörenden mit begeisternden musikalischen Darbietungen verwöhnen, jedoch ohne sie als rein passive Rezipienten zu verstehen. Wir wollen unser Publikum aufhorchen lassen, indem wir alte Hörgewohnheiten durchbrechen, neue Medien einsetzen, ungewöhnliche künstlerische Konstellationen wagen oder gesellschaftspolitische Themen der Gegenwart mit den dramatischen und musikalischen Inhalten der Werke verflechten. Auf diese Weise öffnen wir die Grenze zwischen Mitwirkenden und Publikum und machen Musik auf eine bisher »unerhörte« Weise erlebbar.

Das gelingt auf verschiedenen Wegen und Ebenen, die je nach Projekt auch miteinander verzahnt sein können:

Oft gehörte oratorische Repertoirewerke betten wir in einen ungewohnten Kontext ein, der das Publikum dazu bringt, sich aus einem neuen Blickwinkel mit ihnen auseinanderzusetzen. Insbesondere bei »Klassikern«, die uns aus unzähligen Aufführungen und Einspielungen vertraut sind, geht häufig das Bewusstsein für ihre Einmaligkeit, ihre Brisanz oder auch ihre elementare und erschütternde Botschaft in ihrem historischen Kontext verloren. Ohne das Werk an sich zu verändern, ergänzen oder kombinieren wir es daher mit szenischen, visuellen oder anderen musikalischen Elementen, die seinen Charakter schärfer hervortreten lassen oder ganz neue Interpretationen eröffnen.

Große Bedeutung hat für uns die Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Kinder führen wir in die Welt der Chor- und Orchestermusik ein, indem wir sie vor einem Konzert zum gemeinsamen Musizieren einladen. Nach einer kurzen Vorführung ausgewählter Stücke aus dem Programm werden die Kinder Schritt für Schritt näher an die Musik herangeführt. Wofür ist der Dirigent eigentlich da? Welche Instrumente gibt es? Wie unterscheiden sich die einzelnen Stimmen? Zum Schluss dürfen sich die Kinder in den Chor einreihen und mitsingen, haben teil am Geschehen und an der Musik – dort, wo sie entsteht. So gelingt es, Kinder eindrücklich und nachhaltig für klassische Musik zu begeistern. Wir laden Jugendliche mit ihren Themen und Anliegen zu unseren Projekten ein und lassen sie zu Wort kommen, indem wir sie mit ihren eigenen Texten, Tanz oder Spielszenen thematisch in eine Aufführung einbinden. So erhalten sie die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge in einer von Erwachsenen dominierten Welt darzulegen. Mit ihrer oft geradlinigen und klaren Sprache können sie Probleme und Zusammenhänge erkennbar machen, die sonst weniger Beachtung finden, und schlagen auf diese Weise eine Brücke zwischen den Generationen, die zu einem besseren Verständnis führt. Auch hier durchbrechen wir die Methoden einer althergebrachten, eher pädagogischen Musikvermittlung, indem wir jungen Menschen die aktive Mitgestaltung unserer Aufführungen überlassen.

Unter Mitwirkung kreativer und außergewöhnlicher Künstlerinnen und Künstler verknüpfen wir A-cappella-Chorwerke verschiedener Epochen und Gattungen mit anderen Kunstformen wie Improvisation, Schauspiel oder Installation. Dieses Miteinander von scheinbar Unvereinbarem schafft überraschende und mitreißende Synergien, weckt Assoziationen und innere Bildwelten und lädt zu Aufbruch oder auch Widerspruch ein.

Ursprünglich durch die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie dazu gezwungen, haben wir eine neue Form der Aufführung entwickelt: die »multimediale Live-Produktion«. Die Chorarbeit mehrerer Monate wird in digitalen Aufnahmen festgehalten, aus denen ein Film im Charakter einer Dokumentation entsteht. Die Präsentation dieses Films vor Publikum wird dann durch Live-Auftritte kleinerer Ensembles ergänzt. Hervorzuheben ist, dass die Aufnahmen von allen Mitwirkenden eine besonders sorgfältige Vorbereitung und hohe Konzentration erfordern und die Ergebnisse der intensiven Probenarbeit überdies langfristig fixierbar sind. Dieses Konzept lässt sich flexibel auf künftige Szenarien der Kulturarbeit anwenden.

Wissenschaftliche Begleitung

Seit Jahren werden die Projekte unserer Konzeptreihe NeuHören von zwei Wissenschaftlerinnen begleitet: Die beiden Professorinnen sind Garanten für eine fachlich fundierte Konzeption der betreffenden Werke. Eine Einführung in die Konzerte bietet ein Symposium mit erläuternden und vertiefenden Beiträgen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Frankfurt und Heidelberg.

  • Prof. Dr. Silke Leopold (Emerita der Musikwissenschaften an der Universität Heidelberg)
  • Prof. Dr. Barbara Mittler (Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien (CATS) an der Universität Heidelberg)

Es gehört Mut und ein bisschen Chuzpe dazu, einen neu gegründeten Chor „Junge Kantorei“ zu nennen. Denn was jung ist, altert. Ist also die Kantorei, die inzwischen seit mehr als einem halben Jahrhundert besteht, eine „Alte Kantorei“? Mitnichten. Denn musikalisch hat sich die Junge Kantorei immer wieder neu erfunden.
1968, im Jahr der Gründung, war die Beschäftigung mit Alter Musik, mit Monteverdi oder Händel, neu und unerhört. Joachim Martini, der Gründer und langjährige Leiter, hat viel dafür getan, diese Musik mit neuen, historisch informierten Interpretationsweisen im Konzertleben zu verankern.
Einmal mehr machte die Junge Kantorei ihrem Namen alle Ehre, als Jonathan Hofmann 2013 die Leitung übernahm und die Verbindung des Alten mit dem Neuen auf eine ganz andere Weise anging. Was die Musik der Vergangenheit für die Gegenwart bedeuten kann, muss ja bekanntlich immer wieder neu ausgehandelt werden. Für Jonathan Hofmann steht weniger die Ausgrabung unbekannter Werke im Vordergrund als vielmehr eine neue und besondere Auseinandersetzung mit so prominenten Werken der Musikgeschichte wie Bachs Passionen oder Händels Messias – Werke, von denen wir glauben, sie so gut zu kennen, dass wir gar nicht mehr konzentriert hinhören müssen.

Indem die Junge Kantorei diese jahrhundertealten Musterstücke bürgerlicher Konzertkultur mit Texten, Bildern, Klängen oder auch Bewegungen aus anderen Denk- und Darstellungswelten spiegelt, lädt sie zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Altbekannten ein.
#NeuHören nennt die Junge Kantorei dieses Verfahren, das uns die Ohren für musikalische und inhaltliche Facetten der Werke öffnet, die uns bisher entgangen waren, und die aus der Alten Musik in der Konfrontation mit Ideen „von außen“, das heißt aus Philosophie, Literatur, Geschichte, Politik, fernöstlicher oder orientalischer Religion, auf eine besondere, originelle und außergewöhnliche Weise Neue Musik macht. #NeuHören heißt aber auch: Das Publikum erhält eine Hauptrolle in der Auseinandersetzung mit dem Werk. Es muss – nein: darf – sich einlassen auf die Denkanstöße und Provokationen, die diese individuellen Lesarten bereithalten.“

Prof. Dr. Silke Leopold

 

Die Junge Kantorei hat eine lange Tradition des Wiederentdeckens von vergessenen oder vergessen gemachten Musiken. Bei Joachim C. Martini hieß das „Auf der Suche nach dem verlorenen Klang.“

Mit der Konzeption von #NeuHören wird dieser Ansatz von seinem Nachfolger, Jonathan Hofmann, kongenial weitergesponnen: Wieder geht es darum, Musiken für die Gegenwart neu zu entdecken, aber am Anfang stehen hier nicht unbekannte, sondern, im Gegenteil, eher schon allzu bekannte Werke – die Johannespassion, der Messias, die Matthäuspassion etc. lndem die Musiken dieser „Klassiker“ mit neuen Texten, neuen Bildern, neuen Raumerfahrungen in einen Dialog gebracht werden, werden etablierte Hörerfahrungen herausgefordert – nicht nur zur einfachen Aneignung, sondern zum Anstoß. Sobald der Zuhörer das Sich-einer-neuen-Erfahrung­Aussetzen akzeptiert, ist er in der Lage, sich einer neuen und offenen Auseinandersetzung mit dem, was allzu bekannt nur zu sein scheint, zu stellen.

Die jeweils vorgeschlagene Interpretation denkt die jeweilige Partitur auf eine bisher noch nicht dagewesene, individuelle Weise weiter, aktualisiert sie und schafft damit etwas Neues, das dem Verständnis des Werkes aufhilft, indem es eingeschliffene Vorstellungen vom Sinn und Klang eines solchen Werkes herausfordert. Die Konzertreihe #NeuHören erlaubt auf diese Weise, in und mit diesen eben nur scheinbar wohlbekannten Kompositionen völlig unerwartete Dimensionen und Denkräume aufzutun und damit die jeweilige Musik, so alt sie auch sein mag, immer wieder und ganz aktuell als Neue Musik, als Musik der Gegenwart und als Beitrag zu den Kulturdebatten des 21. Jahrhunderts, erleben zu können.

Jonathan Hofmann reiht sich so in eine wichtige Tradition der Wiederentdeckungen barocker Oratorientradition ein, die mit wichtigen Namen wie Mendelssohn einen Anfang nimmt.

Prof. Dr. Barbara Mittler