Neu Hören

Seit Jahren werden die Projekte unserer Konzeptreihe NeuHören von zwei Wissenschaftlerinnen begleitet:

  • Prof. Dr. Silke Leopold (Emerita der Musikwissenschaften an der Universität Heidelberg)
  • Prof. Dr. Barbara Mittler (Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien (CATS) an der Universität Heidelberg)

Die beiden Professorinnen sind Garanten für eine fachlich fundierte Konzeption der betreffenden Werke. Eine Einführung in die Konzerte bietet ein Symposium mit erläuternden und vertiefenden Beiträgen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Frankfurt und Heidelberg.


Es gehört Mut und ein bisschen Chuzpe dazu, einen neu gegründeten Chor „Junge Kantorei“ zu nennen. Denn was jung ist, altert. Ist also die Kantorei, die inzwischen seit mehr als einem halben Jahrhundert besteht, eine „Alte Kantorei“? Mitnichten. Denn musikalisch hat sich die Junge Kantorei immer wieder neu erfunden.
1968, im Jahr der Gründung, war die Beschäftigung mit Alter Musik, mit Monteverdi oder Händel, neu und unerhört. Joachim Martini, der Gründer und langjährige Leiter, hat viel dafür getan, diese Musik mit neuen, historisch informierten Interpretationsweisen im Konzertleben zu verankern.
Einmal mehr machte die Junge Kantorei ihrem Namen alle Ehre, als Jonathan Hofmann 2013 die Leitung übernahm und die Verbindung des Alten mit dem Neuen auf eine ganz andere Weise anging. Was die Musik der Vergangenheit für die Gegenwart bedeuten kann, muss ja bekanntlich immer wieder neu ausgehandelt werden. Für Jonathan Hofmann steht weniger die Ausgrabung unbekannter Werke im Vordergrund als vielmehr eine neue und besondere Auseinandersetzung mit so prominenten Werken der Musikgeschichte wie Bachs Passionen oder Händels Messias – Werke, von denen wir glauben, sie so gut zu kennen, dass wir gar nicht mehr konzentriert hinhören müssen.
Indem die Junge Kantorei diese jahrhundertealten Musterstücke bürgerlicher Konzertkultur mit Texten, Bildern, Klängen oder auch Bewegungen aus anderen Denk- und Darstellungswelten spiegelt, lädt sie zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Altbekannten ein. 
#NeuHören nennt die Junge Kantorei dieses Verfahren, das uns die Ohren für musikalische und inhaltliche Facetten der Werke öffnet, die uns bisher entgangen waren, und die aus der Alten Musik in der Konfrontation mit Ideen „von außen“, das heißt aus Philosophie, Literatur, Geschichte, Politik, fernöstlicher oder orientalischer Religion, auf eine besondere, originelle und außergewöhnliche Weise Neue Musik macht. #NeuHören heißt aber auch: Das Publikum erhält eine Hauptrolle in der Auseinandersetzung mit dem Werk. Es muss – nein: darf – sich einlassen auf die Denkanstöße und Provokationen, die diese individuellen Lesarten bereithalten.

Prof. Dr. Silke Leopold
Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften
Universität Heidelberg 


Die Junge Kantorei hat eine lange Tradition des Wiederentdeckens von vergessenen oder vergessen gemachten Musiken. Bei Joachim C. Martini hieß das „Auf der Suche nach dem verlorenen Klang.“
Mit der Konzeption von #NeuHören  wird dieser Ansatz von seinem Nachfolger, Jonathan Hofmann, kongenial weitergesponnen: Wieder geht es darum, Musiken für die Gegenwart neu zu entdecken, aber am Anfang stehen hier nicht unbekannte, sondern, im Gegenteil, eher schon allzu bekannte Werke – die Johannespassion, der Messias, die Matthäuspassion etc. lndem die Musiken dieser „Klassiker“ mit neuen Texten, neuen Bildern, neuen Raumerfahrungen in einen Dialog gebracht werden, werden etablierte Hörerfahrungen herausgefordert – nicht nur zur einfachen Aneignung, sondern zum Anstoß. Sobald der Zuhörer das Sich-einer-neuen-Erfahrung­Aussetzen akzeptiert, ist er in der Lage, sich einer neuen und offenen Auseinandersetzung mit dem, was allzu bekannt nur zu sein scheint, zu stellen.
Die jeweils vorgeschlagene Interpretation denkt die jeweilige Partitur auf eine bisher noch nicht dagewesene, individuelle Weise weiter, aktualisiert sie und schafft damit etwas Neues, das dem Verständnis des Werkes aufhilft, indem es eingeschliffene Vorstellungen vom Sinn und Klang eines solchen Werkes herausfordert. Die Konzertreihe #NeuHören erlaubt auf diese Weise, in und mit diesen eben nur scheinbar wohlbekannten Kompositionen völlig unerwartete Dimensionen und Denkräume aufzutun und damit die jeweilige Musik, so alt sie auch sein mag, immer wieder und ganz aktuell als Neue Musik, als Musik der Gegenwart und als Beitrag zu den Kulturdebatten des 21. Jahrhunderts, erleben zu können.
Jonathan Hofmann reiht sich so in eine wichtige Tradition der Wiederentdeckungen barocker Oratorientradition ein, die mit wichtigen Namen wie Mendelssohn einen Anfang nimmt.

Prof. Dr. Barbara Mittler
Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien (CATS) 
Universität Heidelberg